Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 26. März 2017

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG LAETARE

 
Text: Joh 12,20-28

Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest. Die traten zu Philippus, der aus Betsaida aus Galiläa war, und baten ihn und sprachen: „Herr, wir wollen Jesus sehen.“ Philippus kommt und sagt es Andreas, und Philippus und Andreas sagen’s Jesus.
Jesus aber antwortete ihnen und sprach: „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Wer sein Leben lieb hat, der verliert es; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s bewahren zum ewigen Leben. Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren. Jetzt ist meine Seele voll Unruhe. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen!“ Da kam eine Stimme vom Himmel: „Ich habe ihn verherrlicht und will ihn abermals verherrlichen.“

 
Im Märzen spannt der Bauer bekanntlich die Rösslein an, pflügt seinen Acker und sät das Korn, das er im Spätsommer ernten möchte. Heute kommen die „Rösslein“ in der Regel auf vier Rädern und stark motorisiert daher, aber ansonsten hat sich am Vorgang seit Jahrtausenden wenig geändert. Denn Getreide wächst nun mal nur so: Einen Teil dessen, was man geerntet hat, muss man wieder aussäen, damit es auch weiterhin etwas zu ernten gibt. Wer allzu kurzfristig denkt und die ganze Ernte zu Mehl und dann zu Brot verarbeitet, hat im nächsten Jahr nichts mehr – oder muss es teuer einkaufen.
Bei unseren riesigen Agrarüberschüssen heutzutage mag sich das von selbst verstehen. Aber in ärmeren Zeiten und Gegenden ist es manchen Bauern schon hart angekommen, sich das nötige Saatgut buchstäblich vom Mund abzusparen. Da mag die Versuchung manchmal groß gewesen sein, lieber jetzt satt zu werden als an die Zukunft zu denken. Und es mag Überwindung gekostet haben, das Korn nicht in die Mühle zu bringen, sondern erst einmal wegzuwerfen, um es vielfältig zurückzuerhalten – und das auch nur, wenn alles gut ging. Trotzdem würde jeder vernünftige Ackerbauer die Aussage Jesu unterstützen: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“
Aber Jesus geht es ja nicht darum, Bauernweisheiten zu verbreiten. Wenn er vom Weizenkorn spricht, dann meint er damit sich selbst. „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde“, so beginnt er seine Rede. Und das Bildwort vom Weizenkorn beschreibt, wie das vor sich geht: Eben nicht so, wie man sich „Verherrlichung“ erst einmal vorstellt. Eben nicht so, dass Jesus plötzlich unverhüllt in strahlendem göttlichem Licht erscheint. Nicht so, dass er unseren Verstand und unsere Sinne überwältigt, so dass wir gar nicht mehr anders können, als an ihn, den Sohn Gottes, zu glauben. Nein, die Verherrlichung geschieht im Verborgenen, versteckt unter ihrem Gegenteil, mitten in der tiefsten Erniedrigung. Sie geschieht am Kreuz, und dieses schreckliche Hinrichtungsinstrument ist für die Menschen damals so weit weg, wie’s nur geht, von allem, was sie mit „Herrlichkeit“ in Verbindung bringen. Scheinbar steht dieses Kreuz für das Scheitern Jesu. Scheinbar widerlegt es seine Behauptung, dass er eins sei mit dem Vater im Himmel. Aber in Wirklichkeit, so will uns der Evangelist sagen, konnte Jesu Sendung nur so zum Ziel gelangen. Das Weizenkorn muss in die Erde, es muss „sterben“, um Frucht zu bringen. Und so musste Jesus durch den Tod hindurch, um ihn zu besiegen und aller Welt das Leben zu bringen. Die heidnischen, aber gottesfürchtigen Griechen, die Jesus sehen wollen, kommen deshalb zu früh. Erst durch Jesu Tod und Auferstehung hindurch gelangt das Heil Gottes zu ihnen. Vorerst verschwinden sie so plötzlich wieder von der Bildfläche, wie sie aufgetreten sind. Ihre Zeit ist nahe, aber sie ist noch nicht da.
„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“ Das sagt Jesus also über sich selbst. Er sagt es aber auch über die, die ihm nachfolgen. Denn, so geht es weiter, „wer sein Leben lieb hat, der verliert es; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird‘s bewahren zum ewigen Leben.“
Das hören wir nicht gern, auch wenn wir Nachfolger Jesu sein möchten. Das Leben auf dieser Welt hassen? Das tun doch nur Selbstmordkandidaten! Für die meisten von uns dagegen ist dieses Leben das liebste und höchste Gut. Und je größer das Stück ist, das wir vom großen Lebenskuchen abbekommen, desto eher ist es für uns ein erfülltes Leben. Darauf richtet sich all unser Streben, nicht nur bei materiellen Dingen. Und danach richten wir auch die Erziehung unserer Kinder aus. Wir wollen ihnen alle Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten bieten, die greifbar sind, damit sie gut gerüstet ins Leben gehen und das Beste aus ihren Gaben machen können. Wir können uns deshalb nur schwer vorstellen, dass man sein Leben loslassen muss, um es zu gewinnen, dass es notwendig sein könnte, dass man sein Leben verliert, damit es ans Ziel gelangt und seinen Sinn erfüllt.
Um dieser unerhörten Aussage näher zu kommen, sollten wir noch einmal an Jesus denken: Was wäre denn gewesen, wenn auch er sein irdisches Leben als höchstes Gut betrachtet hätte, wenn er seinen Leidensweg nicht gegangen wäre? Hier bei Johannes spielt Jesus nur einen Moment mit diesem Gedanken: „Soll ich sagen: Vater, hilf mir aus dieser Stunde?“ Aber in den anderen Evangelien muss er in Getsemane heftig darum ringen, seinen Weg zu Ende zu gehen. Doch was wäre, wenn? Wenn Jesus sich der Verhaftung entzogen hätte, solange das noch ging? Wenn er einfach fortgegangen wäre – irgendwohin, wo ihn keiner kannte? Und wenn er dort in stiller Abgeschiedenheit sein Leben zu Ende gelebt hätte? Vielleicht wäre er dann glücklich im Kreis seiner Kinder und Enkel alt geworden und schließlich einen friedlichen Tod gestorben, aber er wäre heute vergessen. Denn er hätte dadurch alles entwertet, was er vorher gesagt und getan hatte. Er hätte nicht dazu gestanden, dass in ihm Gott zu den Menschen kam, und wir wüssten nichts von der menschlichen Seite Gottes, blieben verstrickt in unsere Gottesferne und in all die Schuld, die wir dadurch auf uns laden. Nur durch den Tod Jesu hindurch konnte Gottes Liebe wirklich zu uns gelangen. Ohne diesen Tod wäre sie sinnlos verschwendet gewesen. Wie ein Saatkorn, das zermahlen und aufgegessen wurde, bevor es Frucht bringen konnte.
Soweit zu Jesus. Aber wie steht es mit uns? Könnte es auch für uns notwendig sein, die Länge oder auch nur die Qualität unseres Lebens zu verkürzen, um uns treu zu bleiben und für andere Frucht zu bringen?
Sophie Scholl fällt mir dazu ein, die junge Studentin, die mitten im Krieg mit ihrem Bruder und ihren Freunden Flugblätter gegen den Nazi-Wahnsinn verbreitete. Nach ihrer Verhaftung kam sie zu der Überzeugung, dass sie nur mit sich selbst und mit Gott im Reinen bleiben zu könne, wenn sie auch vor Gericht die Wahrheit offen aussprach, obwohl ihr das mit großer Sicherheit das Leben kosten würde – wie es dann auch kam.
Auch die syrischen oder irakischen Christen fallen mir ein, die von islamistischen Terroristen gejagt, gequält und umgebracht werden – einfach, weil sie Christen sind. Zwar bleibt ihnen anders als Jesus meist gar keine andere Wahl. Trotzdem ist es ihr Glaube, den ihre Vorfahren viele Jahrhunderte lang in einer muslimischen Umgebung festgehalten und weitergetragen haben, der sie nun das Leben kostet oder sie in die Flucht zwingt. Alles, was Christen hierzulande an Zeit, Geld, manchmal auch Nerven opfern, um ihnen zu helfen, ist ein Klacks dagegen, obwohl ich die Hilfsbereitschaft keineswegs klein reden will. Und jeder, der hierzulande aus seinem bequemen Sessel über Flüchtlinge und Asylanten schimpft und sie bloß nicht in seiner Nähe haben will, der möge sich doch nur mal für einen Moment überlegen, er müsste mit ihnen tauschen – ganz egal, ob sie aus Verfolgung oder „nur“ aus Armut zu uns fliehen.
Also: selbst wenn uns keine Entscheidungen über Gehen oder Bleiben, Leben oder Tod abverlangt werden, gilt doch eines auch für uns: Unser Leben kann nicht fruchtbar sein, wenn wir es ganz für uns behalten und nur an uns selber und vielleicht noch an unsere Liebsten denken. Nur wenn wir unser Leben mit anderen teilen, für andere einsetzen, vielleicht, wenn es sein muss, sogar für andere aufs Spiel setzen, gewinnt es wirklich Sinn und wird fruchtbar um uns herum und vor Gott. Auch das sollten wir unseren Kindern beibringen und vorleben – neben, vielleicht sogar vor all dem anderen, was wir für wichtig und wertvoll halten. Denn es so zu sehen und entsprechend zu handeln, entspricht zwar wahrlich nicht dem Zeitgeist. Aber es bringt Gottes Geist in unsere Zeit. Und darauf kommt es an. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein