Predigt Talkirche, Sonntag, 13.03.2016

GOTTESDIENSt FÜR DEN SONNTAG JUDIKA

Text: Hebr 5,7-9

Christus hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urhe­ber des ewigen Heils geworden.

Es ist eine erstaunliche Aussage, die in diesem kurzen Text steckt. Oder hätten Sie gedacht, dass der all­mächtige und allwissende Gott noch etwas dazulernen kann? Hier tut er es aber; denn in seinem Sohn Jesus Christus begibt er sich in die Schule des Leidens.

Damit wir erfassen können, was daran so erstaunlich ist, müssen wir uns zunächst ein paar Gedanken darüber machen, was das denn ist, die „Schule des Leidens“. Auf jeden Fall ist es ein altmodischer Aus­druck. Er wird nur noch selten verwendet, besonders in Nach­rufen auf Ver­storbene, wo man sich gern ein bisschen feierlicher aus­drückt als sonst. Wenn man da über je­manden sagt, dass er oder sie durch die Schule des Leidens gehen musste, dann meint man, dass der oder die Betreffende viel Schweres durchmachen musste.

Wie gesagt – es ist ein altmodischer Ausdruck; denn vom Leiden hö­ren, sehen und reden wir ja heute gern so wenig wie möglich. Es gab mal eine Zeit, da war das anders. Da fand das Lei­den auch bei uns noch in der Öf­fentlichkeit statt, und niemand konnte daran vorbei. Damals, 1945 folgende, hatte jeder die zer­störten Häuser vor Augen und die Schrecken der Bom­bennächte noch in den Gliedern. Auch wer den Krieg heil überlebt hatte, sah doch täglich die Versehrten auf ihren Krücken, die Vertrie­benen auf ihrer Suche nach einer neuen Bleibe, die ausgemergelten Gestalten, die nichts zu beißen und wenig Hoffnung hatten. Wer von Ihnen alt genug ist, um sich daran zu erin­nern, hat die Bilder sicher noch im Kopf. Aber wir Jüngeren kannten so etwas lange Zeit nur aus dem Fernsehen. Erst seit das Leiden in Gestalt von vielen Tausend Flüchtlingen bis vor unsere Haustür gekommen ist, ändert sich das wieder – mit den bekannten Reaktionen von Mitleid und Hilfsbereitschaft bis Angst undAbwehr.

Ansonsten aber findet das Leiden bei uns heute weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Wer leidet, der tut es oft für sich allein – höchstens ein paar nahe Angehörige leiden noch mit. Alle anderen verdrängen, so gut sie kön­nen, dass es so etwas wie Leid und Schmerzen gibt und dass es sie selbst einmal treffen könnte. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Natürlich bin ich heilfroh über den langjährigen Frieden und Wohlstand, der man­che Art von Leiden bei uns kaum noch vorkommen lässt. Ich freue mich für jeden Men­schen, dem Leid und Schmerzen erspart bleiben, und ich bin dankbar für all die Möglichkeiten, die uns heute helfen, sie zu lindern. Das Problem ist nur: je frem­der uns das Leiden wird, de­sto weniger können wir damit umgehen, wenn es uns dann doch be­gegnet. Dass man mit Leid und Schmerzen leben kann, ja dass man durch Leiden sogar etwas lernen kann, dieser Gedanke ist uns fern gerückt. Und deshalb ist „Schule des Leidens“ ein altmodischer Aus­druck.

Aber was könnte es denn nun sein, was man in der Schule des Lei­dens lernen kann? Eine alte, immer noch beliebte Antwort auf diese Frage lautet: Man muss vor allem lernen, sich die Angst und den Schmerz nicht anmerken zu lassen. „Lerne leiden, ohne zu kla­gen“, hieß es zu Großvaters Zeiten, „ein richtiger Junge weint nicht“, sag­ten meine Eltern, „immer cool bleiben“ – heißt es heute. Mir fällt dazu dieser reiche Bankier auf der Titanic ein. Als das Schiff sank, zog er seinen Frack an und bestellte sich eine Flasche Champagner, um wenig­stens wie ein Gen­tleman zu ertrinken. Oder ich denke an einen Mann, den ich mal kannte, der bis zu seinem Tod den Op­timisten und starken Be­schüt­zer seiner kranken Frau spielte, obwohl er selbst viel kränker war als sie. Dieser Hang zur Selbstbeherrschung um jeden Preis ist uns Män­nern wohl nur schwer auszutreiben. Frauen billigt man meistens mehr Gefühlsäußerungen zu, aber richtige „Heulsusen“ oder „Klageweiber“ werden auch nicht gemocht. Da­bei wissen wir doch eigentlich, dass es uns nicht gut tut, wenn wir alles Unangenehme überspielen oder in uns hineinfressen.

Aber „cool bleiben“ war es nicht, was Jesus durch sein Leiden ge­lernt hat. Denn im Text heißt es: „Er hat Bitten und Flehen mit lau­tem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod er­retten konnte“. Mir fallen dazu Szenen aus den Evangelien ein: Jesus, der am Grab seines Freundes Lazarus in Tränen ausbricht; Je­sus im Garten Getsemane, der vor Todesangst Blut und Wasser schwitzt und Gott anfleht, ihm dieses Schicksal zu ersparen; Jesus am Kreuz, der mit letzter Kraft seine Verzweiflung hinaus schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“. Nichts steht da von gespielter Gelassenheit und vorgetäuschtem Gleichmut, nur etwas vom nackten, ehrlichen Aufschrei eines gequälten Menschen. Und im Hebräerbrief heißt es, dass Jesus gerade so Gott in Ehren hielt. Denn er verzichtete auf alle Ver­suche, Hal­tung zu bewahren und selbst mit allem fertig zu werden. Sein Hilfeschrei galt dem, der als einziger Halt geben kann, wenn alles zusammenbricht: Er galt Gott, der ihn vom Tod erret­ten konnte.

Und dieser Hilfeschrei wurde erhört, sagt der Text. Aber stimmt das denn? Mag ja sein, dass Gott ihn retten konnte, aber er hat es doch gerade nicht getan! Nichts ist Jesus erspart geblie­ben bis zum bitte­ren Ende. Sein Tod bestätigt doch anscheinend das, was viele für die wahre Lehre aus der Schule des Leidens hal­ten: Wenn’s dir ganz dre­c­kig geht und du wirklich am Ende bist, dann hilft dir keiner mehr. Dann bist du ganz allein mit deiner Angst und deinem Schmerz. Und dann kannst du noch so sehr zu Gott um Hilfe schreien – du wirst keine Antwort bekommen. In Wahrheit ist da nämlich gar keiner, der dich hört. Viele machen diese Erfahrung, und ich merke immer wie­der, dass ich kaum dagegen an­reden kann. Denn ich weiß ja auch nicht, warum Gott zu so viel unsäglichem Leid ein­fach schweigt.

Trotzdem: der Text redet davon, dass Jesus erhört worden ist, und ich möchte versuchen, zu verstehen, wie das gemeint ist. Vielleicht be­steht die Erhörung in dem, was Jesus durch sein Leiden gelernt hat. „Christus hat durch sein Leiden Gehorsam gelernt“, sagt der Hebrä­erbrief. Auch das klingt hart in unseren Ohren. Ich muss an Sklaven und Zwangsarbeiter denken, die solange misshandelt werden, bis sie vor ihren Unterdrückern kuschen, weil ihr Wille gebro­chen ist. Hat Jesus so durch Leiden Gehorsam gelernt? Dann hätten diejenigen Recht, die unseren Gott für einen Sadisten halten, den nur ein blutiges Opfer zufrieden stellen kann. Aber man kann es auch anders lesen: Jesus hat in seinem Leiden gelernt, auf Gott zu hören, ihm zu ver­trauen und sich ganz auf ihn zu verlas­sen. „Nicht wie ich will, son­dern wie du willst“, sagt der betende Jesus im Garten Getsemane. So hatte er bisher gelebt: in einer ganz unmittel­baren Beziehung zu Gott, ganz eins mit dem Willen Gottes für diese Welt. Dass er diese Bezie­hung zu Gott durchgehalten hat, auch im Leiden und Sterben bis hin zum letzten Schrei am Kreuz, das war der Gehor­sam, den er ge­lernt hat. Und das war auch die Erhörung seiner Ge­bete, seine „Errettung vom Tode“. Denn wer tot ist, hat keine Be­ziehungen mehr, auch keine Beziehung zu Gott. Vor dieser Bezie­hungslosigkeit hat Gott Jesus bewahrt. Er hat nicht zugelassen, dass der Tod und die Gott­verlassenheit über ihn das letzte Wort behalten. Darum geht es, wenn wir bekennen, dass Jesus lebt, weil Gott ihn von den Toten auf­er­weckt hat

Aber nun noch einmal zurück zum Anfang. Da habe ich gesagt, dass Gott selber sich in die „Schule des Leidens“ be­geben hat. Und dabei bleibe ich auch. Denn es ist ja nicht irgendein Mensch, der hier durch Leiden Gehorsam lernt, sondern es ist der Sohn Got­tes. Und das heißt: Gott selbst geht diesen Weg durch Lei­den und Tod, den wir alle beschreiten müssen. Wenn das stimmt, dann hat die Pas­sionsge­schichte nicht nur Be­deutung für den einen Menschen Jesus, sondern für alle Menschen, die Gott geschaffen hat. Dann ist es Gott, der für uns am Kreuz stirbt, damit wir leben können. Deshalb heißt es am Schluss des Textes: „Als er vollendet war, ist er für alle, die ihm ge­hor­sam sind, der Urheber des ewigen Heils ge­worden.“ Dem Gott, an den wir glauben, ist in der Tat nichts Menschliches fremd, auch kein menschliches Leid, denn er hat das alles am eigenen Leib erfah­ren. Gerade dann, wenn Angst und Schmerzen über uns zusammenzu­schlagen dro­hen, wenn Gott ganz weit weg zu sein scheint, dann ist er uns in Wirklichkeit besonders nahe – eine rettende Insel, auf die wir uns flüchten können, eine Hand, die uns aus dem Strudel zieht. Wohl dem, der diese Hand er­greifen kann, und sei es nur mit einem Ver­zweiflungs­schrei, wie ihn Jesus am Kreuz ausstieß. Ich weiß, dass ich damit nicht alle Leiden­den trösten kann und dass auch nicht alle Lei­denden es so erleben. Aber ich weiß auch von vie­len, die diese Nähe Gottes erfahren haben – im Krieg, auf der Flucht, in einer schweren Krankheit, auch auf dem Sterbebett. Und ich kann nur hof­fen und darum beten, dass mir und Ihnen diese Erfahrung nicht ver­sagt bleibt. Ich möchte das zum Schluss dieser Predigt tun mit ei­ner Lied­strophe von Paul Gerhardt:

„Wenn ich einmal soll scheiden,

so scheide nicht von mir,

wenn ich den Tod soll leiden,

so tritt du dann herfür;

wenn mir am allerbängsten

wird um das Herze sein,

so reiß mich aus den Ängsten

kraft deiner Angst und Pein.“

Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein