Text: Ez 37,24-28
Der Prophet Ezechiel war im Exil gestorben. Man hatte ihn nach Babel verschleppt, als König Nebukadnezar Juda unterworfen hatte. Elf Jahre später war Jerusalem endgültig zerstört worden und Juda von der Landkarte verschwunden. Ezechiel hatte es kommen sehen. Immer wieder hatte er seinen Landsleuten das Gericht Gottes angekündigt – als Strafe dafür, dass sie Gottes Bund missachtet hatten. Sie hatten seine Gebote nicht gehalten, fremden Göttern gedient, die Armen ausgebeutet, den Fremden Gewalt angetan – nun hatten sie die Quittung dafür. Aber trotzdem war Ezechiel überzeugt gewesen, dass Gott sein Volk immer noch liebte. Und er hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Eines Tages würde Gott sich Israel wieder zuwenden und ihm neues Leben einhauchen. Aber jetzt war der Prophet tot. War mit ihm auch die Hoffnung gestorben?
Darüber dachte Joram nach, als er Ezechiels bescheidene Hütte betrat. Er war sein Diener und Schüler gewesen, und der Prophet hatte ihm seine Habseligkeiten hinterlassen. Das meiste war wertlos: alte, geflickte Kleider, ein paar roh gezimmerte Möbel, ein bisschen Tongeschirr. Aber es gab da eine kleine Truhe, die hatte Ezechiel immer sorgsam gehütet. „Da drin“, hatte er gesagt, „ist alles, was ich der Nachwelt hinterlasse. Halte es in Ehren!“
Diese Truhe nahm Joram sich nun vor. Als er sie aufmachte, fiel sein Blick zuerst auf zwei Holzstücke, die Hälften einer Baumscheibe. Auf der einen stand: „Für Juda und die Israeliten, die sich zu ihm halten“, und auf der anderen: „Für Josef, und das ganze Haus Israels, das sich zu ihm hält“. Wenn man die Hälften zusammenfügte, passten sie genau aneinander, so dass kaum noch eine Fuge zu erkennen war. Und Joram erinnerte sich: Es war bei einer Versammlung der Exilsgemeinde gewesen, da hatte Ezechiel diese beiden Holzstücke plötzlich hochgehalten und zusammengedrückt. „So spricht Gott, der Herr“, hatte er gerufen, „ich will Israel aus seiner Zerstreuung herausholen und sie alle wieder in ihr Land bringen. Und dann sollen sie wirklich ein Volk sein. Es soll kein Nord- und Südreich mehr geben mit zwei Königen, die sich gegenseitig bekämpfen.“ Joram musste lächeln. Für solche verrückten Aktionen war Ezechiel bekannt gewesen. Aber er hatte doch damals noch mehr gesagt! Wie war das noch gewesen? Joram kramte in der Truhe und fand schließlich die große Schriftrolle. Auf ihr hatte Ezechiel alle seine Worte aufgeschrieben. Nach einigem Suchen fand Joram die richtige Stelle:
Und mein Knecht David soll ihr König sein und der einzige Hirte für sie alle. Und sie sollen wandeln in meinen Rechten und meine Gebote halten und danach tun. Und sie sollen wieder in dem Lande wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe, in dem eure Väter gewohnt haben. Sie und ihre Kinder und Kindeskinder sollen darin wohnen für immer, und mein Knecht David soll für immer ihr Fürst sein. Und ich will mit ihnen einen Bund des Friedens schließen, der soll ein ewiger Bund mit ihnen sein. Und ich will sie erhalten und mehren, und mein Heiligtum soll unter ihnen sein für immer. Meine Wohnung soll unter ihnen sein, und ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein, damit auch die Völker erfahren, dass ich der Herr bin, der Israel heilig macht, wenn mein Heiligtum für immer unter ihnen sein wird.
Schöne Worte. Tröstliche Worte. Aber ob sie jemals wahr werden würden? David war doch schon seit 500 Jahren tot. Und Jojachin, sein Nachfahre, saß in Babel im Kerker. Außerdem hatten sie kläglich versagt, die letzten Könige auf Davids Thron. Joram war nicht sicher, ob er einen von denen nochmal zum Herrscher haben wollte. Nein, wenn es etwas werden sollte mit dem ewigen Bund des Friedens, mit der Heimkehr und Einigkeit des Volkes, dann musste Gott selber dafür sorgen. „Meine Wohnung soll unter ihnen sein und ich will ihr Gott sein“, hatte Ezechiel geschrieben. Ja, nur so konnte es gehen. Gottes Gegenwart bei seinem Volk, darauf kam es an – nicht nur in einem Tempel aus Stein, sondern mitten unter den Leuten. Dann würden sie seinen Bund halten können. Und dann würden es auch die anderen Völker sehen und staunen.
Joram legte die Holzstücke und die Schriftrolle wieder in die Truhe. Ja, er würde sie gut aufheben. Und immer, wenn ihm Zweifel kommen würden, dann würde er sie aufmachen und sich erinnern: an Ezechiel, an seine Worte und seine seltsamen Zeichenhandlungen. Sie würden ihm beim Warten helfen – auch wenn es lange dauern sollte.
So langsam spürte Simon das Alter in den Knochen. Sein ganzes Leben lang war er bei jedem Wetter unterwegs gewesen, und das blieb einem nicht in den Kleidern hängen. Sein Alltag hatte sich in all den Jahren nicht geändert: Weideplätze suchen, Schafe scheren, Ziegen melken, ab und zu ein Tier schlachten und braten. Er war einmal der jüngste Hirte bei der Herde gewesen – jetzt war er der älteste. Es fiel ihm heute schwerer als früher. Aber sonst war es dasselbe wie immer, tagein, tagaus.
Auch die Welt um Simon herum war nicht wirklich anders geworden. König Herodes war tot, sein Reich zerfallen, und der Kaiser in Rom hieß jetzt Tiberius statt Augustus. Aber die Steuerlast war immer noch unerträglich. Die eiserne Faust der römischen Legionen lag immer noch schwer auf dem Land. Immer noch brachten Großgrundbesitzer arme Bauern um ihre Äcker und Ölbäume. Immer noch wurden Menschen versklavt und zur Fronarbeit gezwungen. Und immer noch lebten viele in Hunger und Elend.
Dabei hatte Simon mal gedacht, jetzt würde alles anders werden. Was war das für eine Nacht gewesen, damals in Bethlehem! Heerscharen von Engeln, die sangen und jubelten: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden!“ Und dann diese Botschaft: „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Sie hatten es kaum glauben können, aber sie hatten das Kind genauso vorgefunden, wie der Engel gesagt hatte: „in Windeln gewickelt und ein einer Krippe liegend“. Seltsam genug für ein Königskind. Aber der große König David hatte ja auch klein angefangen. Als Schafhirte in Bethlehem, genau wie sie. Und als sie das Kind da so liegen sahen, da war es Simon durch und durch gegangen: Jetzt geschieht es. Jetzt werden die alten Verheißungen wahr. Ihm waren Worte des Propheten Ezechiel in den Sinn gekommen: „Mein Knecht David soll ihr König sein und der einzige Hirte für sie alle.“ – „Ich, der Herr, will einen Bund des Friedens mit ihnen schließen, und alle Völker werden es erfahren.“ Natürlich musste das Kind erst einmal groß werden, aber dann würde es die Gewaltigen vom Stuhl stoßen und die Niedrigen erheben. Und endlich würde Israel frei und eins sein, und Gerechtigkeit und Frieden würden einkehren für alle Zeit.
Seitdem waren nun fast dreißig Jahre vergangen. Das Kind musste längst erwachsen sein, aber man hatte nie wieder von ihm gehört. Hatte Simon doch alles nur geträumt? Oder spielte ihm seine Erinnerung einen Streich?
Wie immer, wenn Simon diese Zweifel kamen, griff er zu seinem Brustbeutel. Er holte ihn unter dem Hemd hervor, schnürte ihn auf und zog einen kleinen alten Stofffetzen heraus. Er war mit den Jahren vergilbt und brüchig geworden, aber er war noch da: der kleine Zipfel einer Windel, den er mit Erlaubnis der Eltern damals abge-schnitten und mitgenommen hatte. Seit jener Nacht trug er ihn bei sich als seinen größten Schatz. Und immer, wenn er ihn zur Hand nahm, stand ihm das Geschehen von damals vor Augen, als sei es gestern gewesen. „Doch, es ist wahr“, dachte er auch jetzt wieder, „er war da, der kleine König im Stall. Er ist auch jetzt noch da, und seine Zeit wird kommen – bestimmt schon bald.“
Als Simon dann von dem jungen Mann hörte, der durchs Land zog, auf nie gehörte Weise von Gott sprach und Menschen gesund machte, so dass man ihn „Sohn Davids“ nannte, da ließ er Schafe Schafe sein und schloss sich ihm an. Er hatte seinen König wieder gefunden.
Manchmal wundert man sich über die vorgeschlagenen Predigttexte zum Heiligen Abend. Ausgerechnet Ezechiel! Hätte es nicht wenigstens Jesaja sein können, „uns ist ein Kind geboren“ oder so was? Aber dieser Text hat so gar nichts Weihnachtliches an sich – jedenfalls nichts Weihnachtliches im herkömmlichen Sinne.
Ich hab natürlich mal gelernt, dass Ezechiel 37 zu den so genannten Messias-Verheißungen gehört. Und ich weiß auch, dass für die Evangelisten diese Verheißungen mit der Geburt Jesu in Erfüllung gingen. Aber ich frage mich, was die Verheißungen eigentlich noch sollen, wenn die Erfüllung doch längst da ist. Andererseits: Wenn man Jesus mal als den „Knecht David“ ansieht, von dem Ezechiel gesprochen hat, dann ist er eben nicht für immer der „Fürst Israels“ gewesen. Für einen Moment haben sie ihm als König zugejubelt, aber dann hat man ihn gekreuzigt. Aus der Traum. Kein „ewiger Friedensbund“. Statt dessen Krieg und Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Elend bis zum heutigen Tag. Ich kann die Juden verstehen, wenn sie von Jesus nichts wissen wollten. „Der soll unser Messias sein? Niemals! Wäre er das wirklich gewesen, dann hätte es Auschwitz nie gegeben, und den 7. Oktober auch nicht.“
Ich muss an das zurückliegende Jahr denken: Nein, es sieht wirklich nicht so aus, als ob da mit Jesus irgendetwas in Erfüllung gegangen ist. Statt eines gerechten Friedensfürsten regieren Leute wie Trump, Putin und Netanjahu die Welt, und die sind keinen Deut besser als Nebukadnezar oder Jojachin, Augustus oder Herodes. Statt Einigkeit herrscht Zwietracht und Egoismus. Nicht einmal angesichts einer Klimakatastrophe, die die ganze Welt betrifft, kriegt man es hin, gemeinsam und entschlossen zu handeln. Kann man da wirklich glauben, dass Gott schon vor 2000 Jahren Mensch geworden ist – zum Heil der ganzen Welt?
Ezechiel und die Hirten hatten wenigstens noch ihre Zeichen. Die zwei Holzstücke. Die Windeln und die Krippe. Aber was für Zeichen soll ich präsentieren, um die Wahrheit von Weihnachten zu bezeugen? Krippenfiguren? Weihnachtsbäume? Herrnhuter Sterne? Alles schöne Dinge, aber als Zeichen der Wahrheit untauglich.
Doch dann ist mir beim Nachdenken doch noch ein Licht aufgegangen. Es kam ja auch damals eigentlich nicht auf die Zeichen an, sondern auf die Jorams und Simons, die diese Zeichen in Ehren hielten. Also: Die Zeichen dafür, dass Gott wirklich Mensch geworden ist zum Heil der ganzen Welt, diese Zeichen sind – wir selber. Wir alle, die wir heute zum Gottesdienst versammelt sind, hier und überall auf der Welt. Mag sein, dass viele, die heute in einer Kirche sitzen, sich nicht für besonders fromm halten. Mag sein, dass ich manche erst am nächsten Heiligen Abend wiedersehe. Und doch ist Ihnen allen der christliche Glaube zumindest so viel wert, dass Sie heute hier sind. Dass Sie nicht Weihnachten feiern wollen, ohne die alte Botschaft wieder zu hören, die vertrauten Lieder wieder zu singen und, wenn es geht, etwas davon mitzunehmen in den Alltag.
Also ist doch etwas passiert, seit das Kind in Windeln in der Krippe lag. Menschen glauben an Jesus Christus, und zwar weltweit mehr als je zuvor. Und das heißt: Menschen glauben an den Frieden. Menschen glauben an die Gerechtigkeit. Menschen glauben daran, dass Gott seine Schöpfung nicht zerstören sondern neu machen will. Und Menschen, die das glauben, die können viel bewegen. Die können zeigen, dass es noch etwas anderes gibt als Gier und Gleichgültigkeit. Und je mehr und zahlreicher sie das tun, desto mehr können sie die Welt verändern. Wenn man mal genauer hinschaut, gibt es über die Jahrhunderte schon viele Beispiele, wo das gelungen ist. Und es gibt sie auch heute. Christen, die sich für Flüchtlinge oder für den Klimaschutz einsetzen, auch gegen den Zeitgeist. Christen, die für Bedürftige Essen kochen. Christen, die gegen Rechtsextremismus auf die Straße gehen oder die sich einfach um ihre Nachbarschaft kümmern. Ich bin überzeugt: Wenn Gott nicht Mensch geworden wäre, dann gäbe es auch nicht so viele aufmerksame, engagierte und liebevolle Mitmenschen. Und dann wäre die Welt definitiv ein sehr viel dunklerer Ort.
Ja an diese Zeichen will ich mich halten. Und ich will selber ein solches Zeichen sein und solche Zeichen setzen. Es mag dann immer noch dauern, bis die Welt sichtbar heil wird. Aber darauf kann ich geduldig warten, denn der Anfang ist gemacht. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein