Predigt Wenschter Siedlerfest, Sonntag, 15. Juni 2025

Gottesdienst für den Sonntag Trinitatis

Text: Jes 6,1-13

„Jetzt langt’s! Ich hör auf zu predigen. Es hört mir ja doch keiner zu!“ Mit diesen Gedanken setzte sich der Prophet Jesaja an sein Schreibpult. Jahrelang hatte er im Auftrag Gottes Klar­text gere­det: mit dem König, mit seinen Ministern, mit dem ganzen Volk von Jerusalem. Er hatte den Reichen ihre Raffgier vorgehalten, den Prie­stern ihre Verlogenheit und den Mächti­gen die Ausbeu­tung der Armen. Er hatte sie an ihren Gott erinnert, den Herrn der Heer­scha­ren, den sie fast vergessen hatten über ihren ach so wichtigen Geschäften. Er hatte von Gottes enttäuschter Liebe gespro­chen und von seinem kommenden Gericht. Aber nichts war passiert. Viele hatten ihn gar nicht verstanden. Andere hatten ihn einfach ig­noriert. Ein verrückter Fanati­ker, hatten sie gedacht, den muss man nicht ernst nehmen. Einige hatten ihm höflich zugehört, hatten ein paar Gewissensbisse bekommen, wieder mal ein Schaf für den Herrn ge­opfert und zwei, drei Almosen verteilt. Dann hatten sie mit beruhig­tem Gewissen weiterge­macht wie bisher. Nur eine Handvoll Leute hatte sich wirklich überzeugen lassen. Sie hatten ihr Leben geändert und waren seine Schüler geworden. Aber die waren nun genauso frustriert wie er. „Jetzt ist Schluss“, dachte Jesaja. „Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen hatte. Ab jetzt werde ich schweigen.“ Nur eins war er dem Auftrag Gottes noch schuldig: alles aufzuschrei­ben, was er gepredigt hatte, Rechenschaft abzulegen von seiner Ar­beit. Dann würde er die Schriftrolle versiegeln und seinen Schülern über­geben. Vielleicht würden spätere Leser sich seine Worte mehr zu Herzen nehmen.

Jesaja nahm sein Schreibgerät zur Hand und überlegte, womit er an­fangen sollte. Er dachte daran, wie alles begonnen hatte. Es war in dem Jahr gewesen, als der alte König Usija starb. Im Rück­blick war das auch das Ende der guten alten Zeit gewesen. Damals hatten noch Frie­den und Wohlstand geherrscht, und auch den kleinen Leu­ten war es vergleichsweise gut gegan­gen. Jetzt dagegen war Krieg. Die Kö­nige von Nord-Israel und Damaskus belagerten Jerusalem und woll­ten Kö­nig Ahas von Juda stürzen. Unter einer Marionettenregierung sollte das Land dann ihrem Bündnis gegen das assyrische Großreich beitreten. Als ob die mächtigen und grausamen Assyrer sich auf ih­rem Siegeszug von kleinen Provinzfürsten aufhalten lassen würden! Jesaja hatte Ahas geraten, Ruhe zu bewahren und auf Gott zu ver­trauen. Aber der hatte aus Angst um seinen Thron lieber die Assyrer um Hilfe gebeten. Jetzt würde er ihnen dafür schweren Tribut zahlen und im Tempel des Herrn Altäre für ihre Götter bauen müssen. Und auf Jesajas Rat musste er in Zukunft verzichten.

Aber zurück zum Todesjahr des Königs Usija. Damals war Jesaja dem Herrn begegnet. Ganz plötzlich war das geschehen, als er ge­rade am Eingang des Tempels stand. Er hatte alles noch sehr le­bendig vor Augen, aber er konnte es nicht beschreiben. In menschlicher Sprache gab es einfach keine passenden Worte für das, was er gehört und gesehen hatte. Bilder und Verglei­che aus der Tempelliturgie fie­len ihm ein, aber damit konnte er nur andeuten, was er meinte.

In dem Jahr, als der König Usija starb, schrieb er schließlich, da sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens, und das Haus ward voll Rauch.

Heilig – das war das entscheidende Stichwort. Deshalb hatte er es gleich dreimal geschrieben: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Ze­baoth“. Damals hatte er zum ersten Mal begriffen, was dieses Wort bedeu­tete. Bisher hatte er immer gedacht, dass er die Sache mit Gott ganz gut im Griff hätte. Er ging regelmäßig zum Gottesdienst und achtete darauf, dass er sich nichts zuschul­den kommen ließ. Und wenn es trotzdem mal passierte, dass er gegen die Gebote des Herrn verstieß, dann gab es dafür ja die Sühnopfer. Kurz gesagt: Er gab sich Mühe, es dem Herrn recht zu machen, und er rechnete damit, dass der Herr das entsprechend anerkennen würde. So machten es doch alle: Man hatte dem Herrn in Jerusalem einen schönen Tempel ge­baut, man hielt sich Priester, die dafür sorgten, dass er dort ord­nungsgemäß verehrt wurde, man spendete mehr oder weniger eifrig, und als Gegenleistung erwartete man, dass der Herr dem Volk Frie­den und Wohlstand garantierte und im Kriegsfall auf seiner Seite stand. Jetzt erst ging Jesaja auf, wie anmaßend und lächerlich das war. Wie hatte er nur glauben können, man könne mit dem heiligen Gott von gleich zu gleich verkehren! Wie war er nur auf den Gedan­ken gekommen, man könnte mit ihm Geschäfte auf Gegenseitigkeit ma­chen! Jetzt sah er, wie die Herrlichkeit des Herrn Himmel und Erde erfüllte. Und er begriff: Gott steht über allem, er ist in allem, und er umgibt alles. Kein menschliches Gebäude kann ihn erfassen, sei es aus Stein oder aus Gedanken. Keiner kann den heiligen Gott vor sei­nen Karren spannen: kein einzelner Mensch, kein Volk, auch keine Religion. Und wer es trotzdem versucht, der missbraucht sei­nen Na­men. Gott hat unser bisschen Wohlverhalten gar nicht nötig. Er kann auch ohne uns, aber wir nicht ohne ihn. Wenn wir ihm wirk­lich von gleich zu gleich gegenübertre­ten wollten, dann müssten wir daran zugrunde gehen – wie eine Mücke verglüht, wenn sie zu nah ans of­fene Feuer fliegt.

Jesaja erinnerte sich noch gut, wie ihm der Schrecken über diese Er­kenntnis in die Glieder gefahren war. Alles, was er bisher über Gott gehört und gesagt hatte, erschien ihm nun als hohles Geschwätz. Er schrieb: Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich habe un­reine Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.

Aber dann war etwas Seltsames geschehen. Jesaja versuchte, es in Worte zu fassen: Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm. Und er rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei.Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!

Er musste also doch nicht sterben. Nicht, weil er vor dem Herrn hätte bestehen können, son­dern weil der Herr es so wollte. Er sorgte dafür, dass zwischen ihm und seinem Geschöpf Jesaja alles ins Reine kam. Und dann gab er ihm einen Auftrag: Er sollte Gottes Bote sein. Er sollte den Menschen in seinem Land die Konsequenzen ihres Tuns vor Augen stellen. Warum tat der Herr das? Warum ließ er das Volk nicht einfach ungewarnt ins Verderben rennen? Es musste wohl daran liegen, dass er diese Menschen liebte – trotz all ihrer Feh­ler, trotz all ihrer Missachtung ihm gegenüber. Sie sollten wissen, woran sie waren. Vielleicht würde sie das ja doch noch zur Einsicht bringen.

Der Auftrag, den Jesaja nun bekam, schien dieser Hoffnung aller­dings völlig zu widerspre­chen:

Geh hin und sprich zu diesem Volk: Hört und versteht’s nicht; seht und merkt’s nicht! Versto­cke das Herz dieses Volks und ihre Oh­ren verschließe und ihre Augen verklebe, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen. Ich aber sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis die Städte wüst werden, ohne Einwohner, und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst daliegt. Denn der Herr wird die Menschen weit wegführen, so dass das Land sehr verlas­sen sein wird. Auch wenn nur der zehnte Teil darin bleibt, so wird es abermals kahl gefressen werden, wie bei einer Terebinthe oder Eiche, von denen beim Fällen noch ein Stumpf bleibt.

Damals hatte Jesaja nicht so recht gewusst, was er mit diesem Auf­trag anfangen sollte. Als Bote Gottes musste er doch Schuld aufde­cken, anklagen, warnen, zur Umkehr rufen, Hoff­nung auf einen Neu­beginn wecken. Er musste doch gerade deshalb Gottes Gericht an­kündi­gen, damit es nicht so weit kommen würde. Er konnte sich doch nicht hinstellen und sagen: „Hört mir zu, soviel ihr wollt, ihr werdet mich doch nicht verstehen und erst recht nicht tun, was ich sage.“ Wozu dann die ganze Mühe?

Jetzt, am Ende seines Wirkens, verstand er besser, was der Herr gemeint hatte. Denn ge­nauso war es ja gekommen: Sie hatten alle gehört, was er sagte, aber niemand hatte auf ihn gehört. Sie hatten alle die Zeichen der Zeit gesehen, aber niemand hatte sie beachtet. Sie hat­ten seine Botschaft registriert, aber niemand hatte sie sich zu Herzen genommen. Jetzt muss­ten sie die angedrohten Konsequenzen tragen: menschenleere Städte und zerstörte Häuser, verwüstete Felder und Vertreibung aus der Heimat. Jesaja blieb nichts anderes mehr übrig, als diese bittere Erkenntnis aufzuschreiben und sie auf­zube­wahren für künftige Zeiten.

Denn das war seine einzige Hoffnung: Der Herr liebte sein Volk; er würde es niemals ganz ver­nichten. Ein Rest würde übrig bleiben. Einige würden Krieg und Vernichtung überleben – wie neue Triebe, die aus dem Stumpf eines gefällten Baumes wachsen. Sie würden es schwer haben in einem zerstörten Land. Aber vielleicht würden sie auch neu nach Gott fra­gen. Wenn sie die Schriftrolle lesen würden, dann würden sie seine Worte ver­stehen: „Wie konnten wir nur so blind und taub sein! Jetzt haben wir es am eigenen Leib erfahren, dass Jesaja recht hatte, dass er tatsächlich im Auftrag des Herrn geredet hat. Das Elend, in dem wir stecken, haben wir uns selbst zu­zuschreiben. Wir müssen akzeptieren, was geschehen ist, und können es nicht rückgängig machen. Aber wir können neu an­fangen. Lasst uns das tun und neu da­nach fragen, was der Herr von uns will!“

Für diesen Rest, der umkehrt, hat Jesaja die Geschichte seiner Beru­fung aufgeschrieben. Ihnen gilt der letzte Satz: Ein heiliger Same wird solcher Stumpf sein. Und es hat diesen Rest tatsächlich immer wieder gegeben: Übriggebliebene, die aus den Fehlern der Vergan­genheit gelernt und im Vertrauen auf Gott neu angefangen haben. Unter den Juden in der babyloni­schen Gefangenschaft gab es solche Leute. Sie akzeptierten die Zerstörung Jerusalems als Gottes Gericht und hofften auf einen Neubeginn. Im Deutschland der Nachkriegszeit gab es solche Leute auch: Sie bekannten vor Gott und den Menschen ihre Mitschuld an der Ermor­dung der Juden und an den Opfern des Krie­ges. Und sie traten nun konsequent für den Frie­den ein und für ein neues Verhältnis von Christen und Juden.

Bis hierhin habe ich diese Predigt schon 1999 geschrieben, vor 26 Jahren also. Das war von heute aus betrachtet auch noch so was wie „gute alte Zeit“ – nach dem Ende des Kalten Krie­ges, noch vor „Nine-Eleven“ und den Folgen, noch bevor der Klimawandel richtig Fahrt auf­nahm. Und ein wenig komme ich mir vor wie Jesaja: als hätte auch ich diese Predigt aufgeho­ben für spätere Zeiten. Damals hatte ich das Gefühl, dass wir die Katastrophen, aus denen wir etwas lernen müss­ten, erst noch vor uns haben. Inzwischen sind sie uns deutlich näher gerückt oder wir stecken schon mittendrin. Der nächstgelegene Krieg ist nur zwei Ländergrenzen weit weg. Den Klimawandel sehen wir täglich an kahlgeschlagenen Siegerländer Hügelkuppen. Und dass Menschen, denen das alles noch viel näher ist, zu uns flüchten, wird keine Grenzkon­trolle verhindern können. Trotzdem haben viele von uns immer noch verschlossene Ohren, verklebte Augen und verstockte Herzen. Wir sehen, wie gefährdet unsere Um­welt ist, aber wir verhalten uns nicht entsprechend. Wir wissen, dass wir als reiche Minderheit der Menschheit auf Kosten der armen Mehrheit leben, aber wir ändern nichts daran. Und wir als Christen wissen längst, dass Gott in Jesus Christus die Welt mit sich versöhnt hat, und trotz­dem sind wir oft unversöhnt mit uns selbst und unversöhnlich zu unseren Mitmenschen. Hat Gott denn auch uns blind und taub gemacht? Oder sind wir dafür selber verantwortlich? Wo ist unter uns der Rest, der um­kehrt? Gibt es ihn schon oder wird erst Einsicht einkehren, wenn alles noch schlimmer gekommen ist? Eins jedenfalls sollten wir uns zu Herzen nehmen: Wenn Gott uns in Jesus Christus seine Liebe längst bewiesen hat, dann müssen wir mit der Umkehr nicht bis nach der Kata­strophe warten. Wir können schon jetzt damit beginnen. So wahr der heilige und barmherzige Gott lebt: Er wird allen, die zur Einsicht kommen, seine helfende Hand reichen. Und er wird sie nicht zurückziehen, was auch immer passiert. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein