Predigt Talkirche, Sonntag, 29. Dezember 2024

Gottesdienst für den ersten Sonntag nach Weihnachten

Text: Mt 2,13-23

Als aber die Weisen hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: „Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.“ Da stand er auf und nahm das Kind­lein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägyptenund blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«

Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Knaben in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte.Da wurde er­füllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht:»In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«

Als aber Herodes gestorben war, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum in Ägypten und sprach: „Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und zieh hin in das Land Is­rael; sie sind gestorben, die dem Kindlein nach dem Leben getrach­tet haben.“ Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mut­ter mit sich und kam in das Land Israel. Als er aber hörte, dass Archelaos in Judäa König war anstatt seines Vaters Herodes, fürch­tete er sich, dorthin zu gehen. Und im Traum empfing er einen Befehl und zog ins galiläische Land und kam und wohnte in einer Stadt mit Namen Naza­reth, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazoräer heißen.

Seit alter Zeit begeht die Christenheit kurz nach Weihnachten den „Tag der Unschuldigen Kindlein“. Er hat seinen Ursprung in dem Text, den ich gerade gelesen habe. Und der nimmt wahrlich wenig Rücksicht auf unsere weihnachtlichen Gefühle. Noch klingt uns die Botschaft vom Frieden auf Erden im Ohr, noch haben wir die (hoffent­lich) leuchtenden Au­gen unsrer Kinder und Enkel unterm Christbaum vor Augen, da wird uns schon wieder eine Ge­schichte zugemutet, die von brutalem Machtkalkül und zigfachem Mord han­delt – und die Opfer sind obendrein so unschuldig, wie man nur sein kann: Säug­linge und Kleinkinder zwischen null und zwei Jahren. Sie müssen sterben, und ihren Müttern und Vätern zerreißt es das Herz – einfach nur, weil ein grausamer alter Despot Angst um seinen Thron hat.

Wahrscheinlich ist das alles nicht wirklich passiert. Wahrscheinlich wusste der echte Herodes nichts von der Geburt Jesu, erst recht nicht, dass dieses Kind als Nachkomme des Königs David galt und seine Herr­schaft in Frage stellen könnte. Und deshalb hat wohl auch der Kin­dermord zu Bethlehem nicht stattgefunden. Aber das hilft uns nicht viel. Denn obwohl die Geschichte keine historischen Tatsachen berichtet, ist sie doch nur zu gut erfunden. Die unschuldigen Kinder von Bethlehem hatte Herodes zwar nicht auf dem Gewissen, wohl aber viele andere, sogar drei seiner eigenen Söhne. Er ließ sie um­bringen, sobald er auch nur vage befürchten musste, dass sie ihm ge­fährlich werden könn­ten. Den designierten Thronfolger Antipater ließ er noch hinrich­ten, als er sich selber schon in Todesqualen wand. Da konnte man sich leicht ausmalen, was passiert wäre, wenn er von der Geburt eines möglichen Messias’ erfahren hätte. Und so entstand die Le­gende, die uns Matthäus in seinem Evangelium erzählt.

Wie gesagt, mit „Frieden auf Erden“ hat das alles wenig zu tun. Aber so geht es eben zu in unserer Welt, leider auch zur Weihnachtszeit. Denn Herodes ist ja wahrlich kein Einzelfall. Immer wieder gehen die Machthaber dieser Erde über Leichen, auch über die von unschuldi­gen Kindern. Wir müssen ja nur in der Nähe von Beth­le­hem bleiben und an die vielen Kinder denken, die die Hamas dort am 7. Oktober 2023 ermordet hat. Oder an die Kinder von Gaza, von der Hamas als Schutzschilde missbraucht, von Israel kaltherzig dem Be­schuss, dem Hunger und der Kälte preisgegeben. Oder an Baschar al-Assad, den nun endlich gestürzten syrischen Tyrannen, dessen Fest­klammern an der Macht Hunderttausende das Leben gekostet hat, auch darunter viele Kinder. Und wenn die Betroffenen aus sol­chen Gefahren fliehen, heißt es inzwischen fast überall: bloß nicht zu uns!

So sind sie, die grausamen Realitäten. So waren sie auch schon da­mals, als die Geschichte vom Kindermord zu Bethlehem ent­stand. Aber eigentlich geht es dort ja nicht um die un­schuldigen toten Kin­der. Sie sind natürlich zu beklagen, und sie werden auch be­klagt. Doch eigentlich geht es um das eine Kind, das dem Morden ent­kommt. Und es geht um Gott, der das Machtkalkül des Herodes durch­kreuzt. Gott sieht den Mächtigen ins Herz. Er weiß um ihre Pläne und lässt Josef davon erfahren. Und er führt Jesus, seinen Sohn, den Weg, der für ihn bestimmt ist: erst ins Asyl nach Ägypten, wo gottlob die Grenzen offen waren und Judäa nicht als „sicheres Herkunftsland“ galt, dann, nach dem Tod des Herodes, zurück ins Land Israel und schließlich nach Nazareth in Galiläa. Für Matthäus und seine Gemeinde erfüllt sich in alledem das, was in ih­rer Bibel steht, in unserem Alten Testament. Sie sind überzeugt: Al­les, was mit Jesus geschieht, hat so seine Richtigkeit; es ist von Gott her genau so gekommen, wie es kommen sollte.

Vielleicht liegt Ihnen jetzt ein Einwand auf der Zunge: Treibt Gott denn nicht auch ein egoistisches Machtspiel, wenn er so handelt? Sein Sohn wird gerettet, dafür sorgt er, aber er rührt keinen Finger für die ande­ren Kinder. Ob es für die Mütter und Väter von Beth­lehem wohl ein Trost gewesen wäre, wenn sie erfahren hätten, dass die ganze Aktion des Herodes vergeblich war, weil der, um den es eigentlich ging, rechtzeitig in Sicherheit gebracht wurde?

So zu denken, liegt nahe. Aber wir vergessen dabei eins: In der gan­zen Geschichte Jesu geht es ein einziges Mal nicht um die Macht­frage, sondern um den Machtverzicht. Mag die Angst des Herodes vor seinen eigenen Söhnen noch eine gewisse Berechtigung gehabt haben: seine Angst vor Jesus ist völlig unbegründet. Jesus hat von den Machthabern seiner Zeit nicht viel gehalten und das auch deut­lich gesagt, aber nie hat er ihnen ihre irdische Herrschaft streitig ge­macht. Nie hat er Anspruch erho­ben auf den Thron Davids. Im Gegen­teil: Jesus verzichtet auf alle äußer­liche Macht und Gewalt. Er kommt eben nicht als Prinz in Jerusalem zur Welt, wie die Weisen aus dem Morgenland dachten, sondern als Kind einfacher Leute in Bethlehem. Er wider­steht der Versuchung des Teufels, der ihm alle Reiche der Welt anbie­tet. Er wird gerade nicht zum Anführer des Widerstands gegen die Römer, obwohl das viele gern gesehen hätten. Sondern er verkün­det Gottes Herrschaft und ruft zur Feindesliebe auf. Er zieht nicht in Jerusalem ein, um sich zum König zu machen, sondern um zu sterben. Er lässt seine Anhä­nger nicht zu den Waffen greifen, als er verhaftet wird, sondern lässt sich widerstandslos festneh­men, verurteilen, foltern und hinrichten. Von diesem Jesus hat Gott gesagt: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Diesen Jesus hat er von den Toten aufer­weckt. Mit Jesus hat Gott sich entschlossen, den Weg der Ohn­macht und Gewaltlosigkeit zu gehen.

Und so war es nach unserer Geschichte von Anfang an. Gott verzich­tet darauf, seine Macht zu demonstrieren. Er greift nicht direkt ins Geschehen ein. Er schickt kein Engelheer und schleudert keinen Blitz auf Herodes. Alles, was er tut, ist, Josef im Traum zu warnen. Hätte Josef die Warnung nicht befolgt, wäre der kleine Jesus dem Zorn des Herodes genauso schutzlos preisgegeben gewesen wie jedes andere Kind. Genauso schutzlos, wie der erwachsene Jesus den Hen­kern des Pilatus ausgeliefert war. Schon in dieser Ge­schichte am An­fang des Evangeliums kann man also erahnen, was Jesus bevor­steht. Nur dass die Zeit dafür jetzt noch nicht reif ist.

Gerade das ist das Entscheidende an der Geschichte Jesu, so paradox es klingt: gerade in der Ohnmacht Jesu ist seine wahre Macht verbor­gen. Mit Gewalt hätte er den Kreislauf des Fressens und Gefressen­werdens nicht durchbrechen können. Dann wäre er nur ein Macht­mensch unter vielen gewesen. Nur seine Ohnmacht, die zugleich Gottes Ohnmacht war, konnte diesen Teufelskreis außer Kraft setzen. Nur so konnte sein Leben und Sterben Sünde, Schuld und Tod überwin­den. Und deshalb dürfen wir wissen: überall, wo heute Men­schen unschuldig leiden, ob Erwachsene oder Kinder, da ist er mitten unter ihnen. Als einer, der mitleidet, aber auch als der, der dem Lei­den nicht das letzte Wort überlässt. Vorerst haben wir nur die Hoff­nung auf ein Ende der Gewaltspirale, auf echten Frieden und wahre Gerechtigkeit. Aber wenn es stimmt, was uns die Bibel von Jesus erzählt, dann hat diese Hoffnung einen festen Grund. Wohl dem, der darauf vertrauen kann. Und wohl dem, der dann auch da­nach handelt und den Unschuldigen beisteht, so gut er kann.

Als vor zehn Jahren die vielen Flüchtlinge aus Syrien kamen, auch noch als vor drei Jahren die Ukrainer zu uns strömten, haben wir das ja eigentlich ganz gut hingekriegt. Natürlich machen so viele Men­schen auch Probleme, und natürlich kann es nicht einfach immer so weitergehen. Aber „Grenzen dicht und Abschieben, was geht“, das kann auf Dauer auch nicht die Alterna­tive für Deutschland oder Eu­ropa sein. Also wünsche ich mir fürs neue Jahr wieder mehr Weit­sicht und Weitherzigkeit in unserem Land – von den Politikern, die wir demnächst wählen sollen, aber auch von uns einfachen Bürgerin­nen und Bürgern. Mögen wir gute Wege fin­den, wie wir im Rahmen des Möglichen den Men­schen beistehen können, die unsere Hilfe brauchen. Und möge uns dabei das schlechte Beispiel anderer von Herzen egal sein. Dann wer­den wir merken, dass wir mit Gottes Hilfe noch viel Gutes bewirken können. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein