Gottesdienst für den siebzehnten Sonntag nach Trinitatis
Text: Jos 2,1-21
Es war still geworden. Die Hörner und das Kriegsgeschrei waren verklungen, die Erde hatte aufgehört zu beben, auch das Getöse der polternden Steine war nicht mehr zu hören. Nur Unmengen von Staub lagen noch in der Luft. Er kroch durch alle Ritzen und senkte sich auf alles im Haus, auch auf Rahab und ihre Familie. Als es losgegangen war, hatten sie sich im hintersten Winkel verkrochen. Geduckt und eng aneinander gedrängt hatten sie abgewartet, was geschehen würde. Jetzt war Rahab die erste, die es wagte, den Kopf zu heben. Langsam stand sie auf und schüttelte den Staub ab. Sie stieg die Treppe hoch zum Dach, steckte vorsichtig den Kopf durch die Luke und schaute sich um: Von der mächtigen Stadtmauer, Jerichos ganzem Stolz, war nichts geblieben als Schutthaufen. Es stand nur noch das Stückchen, an das sich ihr Haus lehnte.
Als der Staub sich allmählich lichtete, sah sie auch die Belagerer. Zunächst standen sie einfach nur da, stumm vor Staunen. Aber als auch sie besser sehen konnten, was geschehen war, erhob sich vielstimmiger Jubel – noch ohrenbetäubender als das Kriegsgeschrei. Und dann stürmten sie los. Von allen Seiten kletterten sie über die Schutthaufen in die Stadt. Schnell schloss Rahab die Dachluke und stieg wieder hinunter. Noch war die Gefahr nicht vorüber! Sie warf einen Blick zum Fenster und war beruhigt: die rote Schnur hing noch an ihrem Platz. Diese Schnur war ihre Lebensversicherung – sie und das, was die Männer ihr geschworen hatten. Trotz der ernsten Lage musste Rahab schmunzeln, als sie daran dachte, wie es dazu gekommen war.
Vor zwei Wochen ungefähr hatten die beiden plötzlich vor ihrer Tür gestanden: israelitische Kundschafter. Sie hatten einen Unterschlupf gesucht, von dem aus sie in der Stadt spionieren konnten. Und Rahab musste zugeben, dass sie nicht schlecht gewählt hatten. Erstens lag ihr Haus gleich neben dem Stadttor. Von hier konnte man also schnell verschwinden, jedenfalls tagsüber. Zweitens hatten sie sich wohl gedacht, dass sie im Haus einer Hure nicht so leicht auffallen würden – wo da doch ständig Männer ein- und ausgingen. Und drittens konnten sie sicher sein – Rahabs Schmunzeln wurde ein wenig bitter – dass eine alleinstehende Frau sich gegen zwei kräftige Männer nicht erfolgreich wehren konnte.
Trotzdem wäre ihr Plan beinahe schief gegangen. Denn natürlich hatte man sie in Jericho trotzdem als Fremde erkannt. Und man konnte sich auch denken, woher sie kamen: von jenseits des Jordan, aus dem Lager der Israeliten. Die hatten schon das ganze Ostjordanland erobert und würden sicher an dem schmalen Fluss nicht haltmachen. Also waren die beiden Spione, und die musste man einfangen. Es dauerte nicht lange, bis ein Trupp von der Stadtwache vor Rahabs Tür erschienen. Und dann tat Rahab etwas, wovon sie sich noch lange fragte, warum sie es eigentlich getan hatte.
„Schnell, aufs Dach“, flüsterte sie den beiden Männern zu, „versteckt euch unter den Flachsstengeln, die da liegen, und rührt euch nicht!“ Dann ging sie an die Tür und setzte ihr verführerischstes Lächeln auf. „Oh, soviel Besuch auf einmal“, sagte sie und schwang aufreizend die Hüften, „da werden die letzten aber ein Weilchen warten müssen, bis sie dran sind!“
„Lass das“, sagte der Hauptmann barsch, obwohl einige seiner Leute für Rahabs Reize durchaus empfänglich schienen. „Wir suchen die zwei Fremden, die heute zu dir gekommen sind. Gib sie heraus, sie sind israelitische Spione!“
„Fremde?“ fragte Rahab scheinbar verwundert und tat, als ob sie nachdenken müsste. „Ach, jetzt weiß ich, wen ihr meint! Ja, stimmt, die waren hier. Aber sie sind schon wieder weg, kurz bevor das Tor für die Nacht geschlossen wurde. Keine Ahnung, wo sie hin sind! Aber es ist ja noch nicht lange her. Wenn ihr euch beeilt, holt ihr sie bestimmt noch ein.“
Der Hauptmann sah Rahab misstrauisch an, aber sie beherrschte ihre Unschuldsmiene so perfekt, dass er ihr schließlich glaubte. Trotzdem warf er noch einen prüfenden Blick ins Haus, konnte aber kein Anzeichen entdecken, dass die Fremden noch da waren. „Gut, sie scheinen wirklich weg zu sein“, sagte er dann. „Los, Männer, auf zum Jordan! Wir müssen die Spione fassen, bevor sie den Fluss erreichen!“ Und schon rannten sie los, so schnell sie konnten. Hinter ihnen wurde das Stadttor wieder fest verrammelt.
Rahab ging ins Haus und atmete auf. Sobald die Luft rein war, stieg sie zu den Israeliten aufs Dach. „Ich weiß, dass der Herr, euer Gott, das Land Kanaan in eure Hände gegeben hat“, sagte sie ohne Umschweife. „Es hat sich zu uns herumgesprochen, wie der Herr euch am Schilfmeer gerettet hat: dass ihr trockenen Fußes hindurch ziehen konntet und eure ägyptischen Verfolger ertrunken sind. Und wir haben auch gehört, was ihr mit Sihon und Og gemacht habt, den Königen der Amoriter im Ostjordanland. Glaubt mir: ganz Kanaan ist starr vor Schreck und zittert vor euch. Denn wir wissen, dass es uns nicht besser ergehen wird. Inzwischen glaube ich sogar, dass der Herr nicht nur euer Gott ist, sondern der Gott der ganzen Welt, der Herrscher des Himmel und der Erde. Selbst die Naturgewalten sind machtlos gegen ihn – wie sollten wir ihm dann widerstehen können? Das muss es wohl sein, warum ich meine eigenen Leute belogen und euch geholfen habe. Aber weil ich das getan habe, müsst ihr mir jetzt etwas schwören: Wenn ihr Jericho erobert, dann verschont mich und meine Familie: meine Eltern, meine Geschwister und alle, die zu ihnen gehören. Seid barmherzig zu uns, wie ich barmherzig zu euch war!“
Die beiden Männer schauten Rahab an und waren erst einmal sprachlos. Offenbar hatten sie von einer heidnischen Hure solche Worte nicht erwartet. „Du hast recht“, sagte der Ältere schließlich, „wir haben allen Grund dir dankbar zu sein. Wenn du uns also entkommen lässt und uns nicht verrätst, dann soll euer Blut auf uns kommen, wenn euch jemand etwas antut.“ Dann zog er ein Stück rote Schnur aus der Tasche und gab es Rahab. „Hier“, sagte er, „wenn wir die Stadt angreifen, dann häng diese Schnur als Zeichen aus deinem Fenster. Und hol deine ganze Familie zu dir ins Haus. Wenn man euch draußen auf der Straße antrifft, können wir nichts für euch tun. Aber hier im Haus sollt ihr sicher sein.“
„Gut, abgemacht“, sagte Rahab. Sie reichte den beiden die Hand, und die schlugen ein. „Am besten bleibt ihr noch hier, bis in der Stadt alles schläft. Dann könnt ihr durchs Fenster steigen und an einem Seil die Mauer hinunterklettern. Versteckt euch am besten erstmal drei Tage in den Bergen, damit die Soldaten euch nicht finden. Wenn sie wieder zurück in Jericho sind, könnt ihr dann unbemerkt den Jordan überqueren.“
Und so war es geschehen. Kurz nach Mitternacht hatte Rahab die beiden geweckt und aus dem Fenster steigen lassen. Sie hatten sich noch mal herzlich bedankt und geschworen, Rahab nie zu vergessen. Dann waren sie verschwunden.
Eine Woche später waren sie wieder da gewesen, mit ihrem ganzen Heer. Sie waren viele, aber sie sahen ärmlich aus und waren schlecht bewaffnet. Niemals hätten sie die starken Mauern von Jericho stürmen können. Und als ihre Priester anfingen, um die Stadt zu ziehen und Hörner zu blasen, hatten die Wächter auf den Zinnen noch gelacht. Jetzt waren sie tot, die Mauer war weg und für Israel stand der Weg nach Kanaan offen.
Rahab war klar, dass es nicht diese armen Wüstensöhne waren, die Jericho besiegt hatten. Sie waren wohl wirklich mit dem Gott des Himmels und der Erde im Bunde. Aber warum musste es dann trotzdem so viel Blutvergießen geben? Sie hörte, wie der Kampflärm in der Stadt langsam nachließ, und die Schreie der Sterbenden mehr und mehr verstummten. Sie wusste, dass außerhalb ihres Hauses niemand in Jericho am Leben bleiben würde. „Den Bann vollstrecken“ nannten die Israeliten das, und sie waren überzeugt, dass der Herr es so haben wollte. Aber Rahab war da nicht so sicher. Hätte der Herr sonst sie und die Ihren am Leben gelassen? Vielleicht mussten die Israeliten erst noch lernen, was sie schon begriffen hatte: dass der Herr eben nicht nur Israels Gott war, sondern der Herr der Welt, der Schöpfer aller Menschen und Lenker aller Völker, und dass deshalb auch Menschen aus allen Völkern und allen Schichten zu diesem Gott gehören konnten – so wie Rahab, die kanaanäische Hure. Schweigend umarmte sie ihre Lieben, erschüttert und erleichtert zugleich. Jericho existierte nicht mehr. Aber Rahab und ihre Nachkommen würden in Israel weiterleben – als Kanaanäer, und doch als Teil von Gottes Volk.
Es klopfte. „Rahab“, rief eine bekannte Stimme von draußen, „es ist vorbei. Ihr könnt jetzt rauskommen!“ Rahab ging zur Tür und machte sie weit auf. Draußen standen nicht nur ihre beiden Gäste von neulich, sondern eine große Menschenmenge. Sie waren neugierig auf die heidnische Frau mit zweifelhaftem Ruf, die ihre Kundschafter gerettet hatte und vom Herrn verschont worden war.
Rahab wandte sich ihrer Familie zu. „Kommt“, sagte sie und lächelte. „Ihr braucht keine Angst mehr zu haben. Es ist vorbei, und wir sind noch da. Lasst uns einen Ort finden, wo wir leben können. Und dann lasst uns den Israeliten zeigen, dass auch wir Gottes geliebte Kinder sind!“
Dann ging sie ihren Lieben voran Richtung Stadttor, aufrecht und stolz. Respektvoll machten die Israeliten Platz und bildeten eine Gasse. Lange schauten sie Rahab noch hinterher, nachdem sie die zerstörte Stadt verlassen hatte. In der Tat bewahrten sie ihr immer ein ehrendes Andenken. Und mehr als tausend Jahre später zählte ein Evangelist die Hure Rahab zu den Vorfahren des Menschen, in dem Gott ihre größten Hoffnungen wahr werden ließ. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein