Gottesdienst für den fünften Sonntag nach Trinitatis
Text: Mt 9, 35 – 10, 7
Wenn ich als Pfarrer aufmerksam durch die Gemeinde gehe, könnte ich schon mal an seinem Beruf verzweifeln: So viele Menschen, die Hilfe und Zuspruch brauchen, so viele wichtige Aufgaben, und immer ist nur ein Bruchteil zu schaffen! Da sind die Konfirmanden, von denen manche viel intensivere und persönlichere Aufmerksamkeit brauchen würden. Da sind die Menschen, die einfach nie auf einen grünen Zweig kommen: arm, arbeitslos, frustriert, oft auch familiär zerstritten – Geld aus der Diakoniekasse hilft da nur ganz oberflächlich. Da sind die vielen Kranken und Pflegebedürftigen, etliche von ihnen früher treue Kirchgänger, die es verdient hätten, dass ihr Pastor sie öfter mal besucht. Da sind die Wohnungslosen, die an der Tür schellen, ein bisschen Geld und manchmal ein Butterbrot bekommen, die einen aber zu nervösen Blicken auf die Uhr verleiten, wenn sie anfangen, lang und breit von ihren Problemen zu erzählen. Dabei haben sie womöglich sonst niemanden, der ihnen zuhört. Aber für alle immer Zeit zu haben ist halt nicht drin bei 2500 Gemeindegliedern pro Pfarrstelle. Und dass es in Zukunft noch deutlich mehr sein werden, macht die Sache natürlich nicht besser.
So geht es aber wohl nicht nur Pfarrersleuten. Denn es gibt ja gottlob gar nicht so wenige mitfühlende Menschen, die anderen gern helfen und Mut zusprechen, bestimmt auch unter denen, die heute hier sind. Aber auch sie stoßen mit ihrer Hilfsbereitschaft an Grenzen. Es scheint da nur drei Alternativen zu geben, und die sind allesamt wenig verlockend: Entweder man verfällt dem Helfersyndrom: Man mutet sich viel mehr an Mitmenschlichkeit zu als man bewältigen kann, bis man irgendwann zusammenklappt. Oder man läuft permanent mit schlechtem Gewissen durch die Gegend. Oder man resigniert, stumpft ab und verschließt vor der Not der anderen die Augen und das Herz. Richtig gut geht es damit keinem von den dreien.
Der heutige Predigttext verheißt uns Trost in dieser misslichen Lage. Denn er lässt uns erstens wissen, dass es dem Herrn Jesus auch nicht anders ging, und er zeigt uns zweitens einen Weg, wie wir unserem Dilemma entkommen können. Er steht im Matthäusevangelium, im 9. und 10. Kapitel:
Und Jesus zog umher in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen.
Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren geängstet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: „Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.“
Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. Die Namen aber der zwölf Apostel sind diese: zuerst Simon, genannt Petrus, und Andreas, sein Bruder; Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder; Philippus und Bartholomäus; Thomas und Matthäus, der Zöllner; Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Thaddäus; Simon Kananäus und Judas Iskariot, der ihn verriet. Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: „Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht nicht in eine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“
Jesus tut, was er kann – ihm wird das wohl keiner abstreiten. Er lehrt und predigt und heilt. In allen Städten und Dörfern und Synagogen. Damit fängt der Text an. Und man könnte schon denken: Ja, Jesus, der konnte das! Aber der musste dieses Arbeitspensum ja auch nur höchstens drei Jahre durchhalten. Und außerdem war er ja etwas ganz Besonderes: Gottes Sohn, der Heiland, der Retter der ganzen Menschheit.
Aber sogar Jesus packt der Jammer, wenn er sich umschaut in den Städten und Dörfern Galiläas: Überall geplagte und niedergeschlagene Menschen. Mehr als selbst Jesus bewältigen kann. Schafe ohne Hirten. Ein riesiges reifes Kornfeld. Einer allein könnte es niemals rechtzeitig abmähen: „Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter.“
Doch Jesus resigniert nicht. Er verfällt auch nicht in Aktionismus. Er heuert auch nicht gleich alle Erntehelfer an, die er kriegen kann. Sondern er beschränkt sich fürs erste auf zwölf Leute, und auch die schickt er nicht gleich los, sondern fordert sie erstmal zum Beten auf: „Bittet den Herrn der Ernte, das er Arbeiter in seine Ernte sende.“
Dahinter steht die Einsicht: Wir schaffen es nicht allein. Wir würden es aber auch nicht schaffen, wenn wir ganz viele wären. Und es ist überhaupt der falsche Weg, wenn wir einfach loslegen mit unserem Zuspruch und unserer Hilfsbereitschaft. Uns muss erstmal jemand schicken. Gott, der Herr der Ernte, muss Menschen in Dienst nehmen und aussenden. Nicht, weil wir nur als Befehlsempfänger funktionieren können. Nicht weil wir sozusagen Beamte sind, die nur das tun, was in der Dienstanweisung steht. Sondern, weil wir wissen müssen, weshalb wir eigentlich anderen Menschen helfen, weshalb wir ihnen die Botschaft vom Gottesreich in Wort und Tat vermitteln. Wir brauchen eine Vollmacht für unser Tun. Etwas, womit wir uns ausweisen können und was uns zum Handeln motiviert.
Ich glaube, ohne eine solche Vollmacht, die uns trägt und hält, können wir nicht lange gute Mitmenschen sein. Ohne sie bleibt nur das dumpfe Gefühl: Irgendwie müsstest du dem oder der jetzt helfen. Und vielleicht versuchen wir auch, dieses dumpfe Gefühl in die Tat umzusetzen. Aber wir werden mit ziemlicher Sicherheit dabei scheitern, wenn wir nicht wissen, weshalb wir das jetzt tun und was wir damit erreichen wollen. Ich denke, es sieht anders aus, wenn wir Gottes Sendung im Rücken haben. Wenn uns bewusst ist: Gott liebt diesen Menschen, der meine Hilfe braucht, genauso wie mich, und deshalb tu ich mein Bestes, um ihm zu helfen, damit er oder sie auch etwas davon spürt. Diese Gewissheit, die mich trägt, ist auch eine Entlastung. Denn dass Gott den Menschen liebt, den ich vor mir habe, das gilt auch dann, wenn ich es nicht schaffe, ihm zu helfen. Ich kann dann immer noch hoffen, dass Gott andere Menschen, andere Mittel und Wege findet, um diesem Menschen seine Liebe nahe zu bringen.
Es mag ja sein, dass Menschen mit Sendungsbewusstsein heutzutage eher auf Misstrauen stoßen. Aber dass sie überzeugend wirken, weil sie von ihrer Sache überzeugt sind, das müssen wir ihnen zugestehen. Und wenn diese Überzeugung wirklich die Liebe Gottes zu den Menschen zum Inhalt hat, dann kann sie auch kaum für persönliche Machtgelüste missbraucht werden. Jedenfalls: Christen, die sich ihrer Sendung durch Gott bewusst sind, könnte es in unserer Gesellschaft und unserer Kirche ruhig mehr geben. Vielleicht wüssten die Menschen in der Kirche und um die Kirche herum dann wieder besser, was sie an ihr haben.
Und noch einen wichtigen Ratschlag entnehme ich den Worten Jesu: Wenn wir den sogenannten Missionsbefehl im Ohr haben, den wir bei jeder Taufe hören, dann klingt der Auftrag, den die Jünger hier bekommen, eher beschränkt und bescheiden. Dort heißt es: „Geht hin in alle Welt und macht zu Jüngern alle Völker“. Hier steht: „Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“
Historisch gesehen spiegeln sich darin zwei Stufen der Geschichte des frühen Christentums. Den ersten Christen, die ja aus dem Judentum kamen, ging es erstmal darum, ihre Landsleute, das Volk Israel, von Jesus als ihrem Messias zu überzeugen. Die Heidenvölker, die Enden der Erde kamen erst später in den Blick.
Für uns heute ist das kein Thema mehr. Uns ist klar, dass die Botschaft von Gottes Liebe allen Menschen gilt. Und trotzdem können wir etwas lernen aus der Beschränkung, die Jesus seinen Jüngern zunächst mitgibt: Mission, Verkündigung des Evangeliums, Mitmenschlichkeit im Namen Jesu Christi fangen in unserer nächsten Umgebung an. Wir persönlich müssen keine weltumspannende Missionstätigkeit entfalten. Wir müssen uns auch nicht die Not und das Elend der ganzen Welt aufladen. Denn die Menschen, zu denen Gott uns schickt, das sind zuallererst die, mit denen wir in einer engen Beziehung stehen und für die wir deshalb Verantwortung tragen.
Also: Ihr seid Eltern oder Großeltern? Dann schickt Gott euch zu euren Kindern und Enkeln, damit ihr ihnen gebt, was sie zum Leben brauchen, und damit ihr ihnen Gottes Liebe nahe bringt. Ihr habt alte Eltern oder Ehepartner, die Pflege brauchen? Dann schickt Gott euch zu ihnen – oder vielleicht zu Freunden und Nachbarn, die in Not sind. In unserer nächsten Umgebung gibt es „verlorene Schafe“ genug – oder auch „Schafe“, die ohne uns verloren wären. Zu denen sind wir gesandt. Denn das sind die, um die sich sonst niemand kümmert. Das sind unsere Nächsten, die gerade uns brauchen. Wir müssen sie nicht lange suchen. Sie sind schon da oder laufen uns über den Weg. Und wir werden jeweils schon wissen, dass wir selber jetzt gefragt sind und uns nicht nach jemand anderem umschauen können. Wir müssen nicht mehr tun, als wir können und verkraften. Aber mit dem, was wir tun können, sollten wir nicht hinter den Berg halten.
Ich bin froh, dass das in den Familien, in den Nachbarschaften und Freundeskreisen in unserer Gemeinde immer noch vielfältig geschieht, wenn auch oft im Verborgenen. Bei manchen ist es bewusst gelebter Glaube, der sie zum Handeln bewegt, bei anderen ist es einfach Zuneigung und Mitmenschlichkeit. Aber ob ihnen das nun bewusst ist oder nicht: Sie alle sind für mich Arbeiterinnen und Arbeiter, die Gott in seine Ernte schickt. Und wenn ich solchen Menschen begegne, dann wird auch mir als Pfarrer wieder deutlich, dass ich nicht alle seelsorgerlichen Probleme meiner Gemeinde allein lösen muss, was ich ja auch gar nicht könnte. Andere nehmen mir da eine Menge Arbeit ab. Und auch wenn es hier und jetzt niemand merkt: Gott vergisst nicht einen Handgriff, der seiner großen Ernte dient. Und mit jedem dieser Handgriffe kommt sein Reich ein kleines Stück näher. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein